Ich kann es bald nicht mehr hören das „Ich will einfach authentisch sein (dürfen)“. Daher beschreibe ich hier einmal was ich unter Authentizität verstehe und wo ich hier die Problematik sehe.
Der Wunsch, „total authentisch“ zu sein, klingt auf den ersten Blick befreiend – und gleichzeitig birgt er einige Fallstricke. Wenn man genauer hinschaut, wird schnell klar, dass das Konzept selbst widersprüchlich sein kann.
1. Authentizität wird oft missverstanden.
Viele setzen Authentisch-Sein mit „alles sagen, was ich denke“ oder „ich bin halt so“ gleich. Doch das ist eher Impulsivität als Echtheit. Authentizität bedeutet nicht, ungefiltert jede Regung nach außen zu tragen – sondern die innere Haltung, Bedürfnisse und Werte stimmig zu leben und dabei in Beziehung zu bleiben.
2. Der Wunsch, total authentisch zu sein, kann performativ werden.
Spannend ist die paradoxe Dynamik: Wenn Menschen unbedingt authentisch wirken wollen, wird das Verhalten häufig un-authentisch. Sie steuern bewusst, wie „echt“ sie erscheinen, und verlieren genau das, was sie zeigen möchten.
Selbstbeobachtung kann dann zur Selbstinszenierung werden.
3. Authentizität ist kontextabhängig.
Wir zeigen unterschiedliche Facetten, je nach Beziehung, Rolle oder Situation. Das ist kein Verrat an der eigenen Identität, sondern Ausdruck gesunder sozialer Intelligenz. Wenn jemand auf „radikale Authentizität“ besteht, ignoriert er den relationalen Rahmen – und riskiert, Grenzen anderer zu überschreiten.
4. Das Ideal kann Druck erzeugen.
Der Anspruch, immer ganz man selbst zu sein, kann enorm belastend wirken. Menschen sind komplex, widersprüchlich, manchmal unsicher. Vollständige Kohärenz ist ein Ideal, das kaum erreichbar ist. Sich authentisch fühlen heißt oft eher: sich erlauben, ein unvollständiger, lernender Mensch zu sein.
5. Authentizität braucht Reflexion, nicht Rechthaberei.
Echte Authentizität entsteht, wenn jemand sich seiner Werte bewusst ist, Verantwortung übernimmt und gleichzeitig bereit bleibt, sich zu hinterfragen. Der Satz „Ich bin halt ehrlich“ ist häufig eher eine Schutzbehauptung als ein Ausdruck von Integrität.